Bild: Stephan Röhl. Lizenz: Creative Commons BY-SA 2.0. Original: Flickr.
liebe Freundinnen und Freunde,
ich begrüße Sie sehr herzlich in der Heinrich-Böll-Stiftung zum Fachgespräch Gesellschaftliche Dynamik und sozialer Ausgleich, das wir in Zusammenarbeit mit der Vodafone Stiftung Deutschland durchführen.
Die heutige Veranstaltung ist Teil unseres Programms Was ist der deutsche Traum? Bildung – Integration - Aufstieg, mit dem wir erkunden, wie weit das Leitbild einer aufstiegsoffenen Gesellschaft als Orientierung für eine emanzipatorische Politik taugt.
Unsere Leitfrage lautet: Wie können alle Menschen in die Lage versetzt werden, durch eigene Anstrengungen voranzukommen, ohne daran durch die ethnische, räumliche oder soziale Herkunft gehindert zu werden?
Wir wollen heute mit Ihnen über eine Grundspannung diskutieren, die der sozialen Marktwirtschaft innewohnt: Die Spannung zwischen Eigenverantwortung und Eigeninitiative auf der einen Seite und Mechanismen des sozialen Ausgleichs auf der anderen.
Dabei stehen gesellschaftliche Dynamik und sozialer Ausgleich durchaus nicht auf Kriegsfuß miteinander. Eher handelt es sich um ein komplementäres Verhältnis. Wir haben hinreichende wissenschaftliche Erkenntnisse und empirische Evidenz, dass ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit die gesellschaftliche Dynamik nicht blockiert, sondern ganz im Gegenteil befördert.
Es ist eine irreführende Vorstellung, dass ein hohes Maß sozialer Absicherung per se die ökonomische Dynamik bremst. Wer darauf vertrauen kann, dass er nicht ins Bodenlose fällt, wird in der Regel risikobereiter und mobiler sein als jemand, dessen Wohl und Wehe daran hängt, seinen Job mit Zähnen und Klauen festzuhalten.
Wer sich beruflich neu qualifizieren kann, wird sich vermutlich eher auf den ökonomischen Strukturwandel einlassen. Und wer nach einem Konkurs eine zweite Chance erhält, wird eher bereit sein, das Wagnis der Selbständigkeit einzugehen als jemand, der mit einem gescheiterten Geschäftsmodell auch seine bürgerliche Existenz riskiert.
Auch zwischen sozialer Infrastruktur und ökonomischer Innovation gibt es eine positive Korrelation: in Wissensgesellschaften kommt es entscheidend auf den Bildungs- und Wissenschaftsbereich an, von der frühkindlichen Förderung bis zu einer gut ausgebauten beruflichen und akademischen Bildungslandschaft.
Wir wissen nicht erst seit den Untersuchungen von Wilkinson/Picket, dass die soziale Durchlässigkeit einer Gesellschaft höher ist, wenn sie auf sozialen Ausgleich und gut ausgebaute öffentliche Dienstleistungen aufbauen kann. Ihre These lautet, dass starke Einkommensungleichheit nachteilig für die gesamte Gesellschaft ist, also unter dem Strich auch die Lebensqualität der Wohlhabenden beeinträchtigt. Geht die Schere zwischen Arm und Reich zu stark auseinander, geht das zu Lasten des sozialen Zusammenhalts, der öffentlichen Sicherheit und des Aufstiegs durch Bildung.
Nicht von ungefähr weisen die skandinavischen Gesellschaften eine höhere soziale Aufwärtsmobilität auf als die USA. Diese sind ihrem Selbstverständnis immer noch das Mutterland des „Aufstiegs durch Leistung“, lösen diesen Anspruch aber immer weniger ein.
Das große Versprechen der Nachkriegszeit, dass jede und jeder durch eigene Anstrengungen in der Gesellschaft vorankommen könne, wird auch in Deutschland nicht mehr eingelöst. So hat die von der Heinrich-Böll-Stiftung im letzten Jahr veröffentlichte Studie Kaum Bewegung, viel Ungleichheit von Reinhard Pollak (WZB) gezeigt, dass die Chancen auf den gesellschaftlichen Aufstieg in nur wenigen industriellen Staaten so ungleich verteilt sind wie in Deutschland. Der soziale Fahrstuhl ist hierzulande ins Stocken geraten und am unteren Ende der Gesellschaft schaffen es viele nicht, überhaupt einzusteigen.
Gefragt sind daher Strategien gegen die blockierte Gesellschaft, eine neue Politik der sozialen Durchlässigkeit, die faire Aufstiegschancen ermöglicht und strukturelle Blockaden – etwa durch Diskriminierung und herkunftsbedingte Benachteiligung – auflöst. Eine faire, aufstiegsoffene Gesellschaft ist ein Gebot der Gerechtigkeit, aber auch eines der wirtschaftlichen Vernunft. Alternde Gesellschaften werden es sich immer weniger leisten können, auf Talente zu verzichten.
Die jüngsten Unruhen in Großbritannien zeigen drastisch, wie destablisierend große soziale Unterschiede wirken können, die aufgrund fehlender Aufstiegschancen für eine große Zahl junger Menschen als unüberwindbar empfunden werden. Nichts ist demotivierender als wenn Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, dass sich Anstrengung in Schule und Beruf nicht lohnen, weil sie ohnehin keine Chance haben, auf einen grünen Zweig zu kommen.
Wohlgemerkt: es geht nicht darum, Eigenverantwortung, Leistung und Wettbewerb durch staatlich verbürgten Egalitarismus zu ersetzen. Wir brauchen beides: eine aktive Politik des sozialen Ausgleichs, die Chancengerechtigkeit erst herstellt, wie die Aspirationen und Anstrengungen von Individuen, die das Beste aus sich und ihrem Leben machen wollen.
Wir müssen den Blick auf die Rahmenbedingungen lenken, die faire Aufstiegschancen gewährleisten. Es geht die Stärkung öffentlicher Güter, um Kinderbetreuung, gute Bildungseinrichtungen, um einen inklusiven Arbeitsmarkt und ein verlässliches Gesundheitssystem. In einer sozial stark ausdifferenzierten Gesellschaft braucht es kompensatorische Institutionen und Instrumente, damit „Aufstieg durch Leistung“ kein leeres Versprechen für die „Unteren“ und kein Tarnwort für die Selbstprivilegierung der „Oberen“ bleibt.